Auch hier wieder eine kleine „Lüge“ im Titel. Das besprochene Werk ist ein Ebook, verfasst von Marie Lipsius liegt in einer urheberrechtsfreien Ausgabe aus dem Jahr 1913 jetzt als kostenloses Kindle-Ebook vor. Im Original erschienen ist es bei Breitkopf & Härtel.
Die Ausgabe umfasst Darstellungen zu Carl Maria von Weber, Franz Schubert, Felix Mendelssohn, Robert Schumann, Frédéric Chopin, Franz Liszt und Richard Wagner. Dabei ist zunächst jeweils ein biographisches Kapitel zu jedem Komponisten zu finden und im Anschluss daran ein gut dokumentiertes Werkverzeichnis.
Geprägt wird auch dieser Text natürlich von der Sprache und dem Weltbild der Entstehungszeit. Gerade auch im Zusammenhang mit Wagner ist dies an einigen Stellen durchaus sehr befremdlich (Zitat: „So die ältesten Denkmale deutscher Volkspoesie dem künstlerischen Genießen der Gegenwart wiedergewinnend und das moderne Bewußtsein mit der alten Mythologie unseres Volkes in Zusammenhang setzend, vollbrachte er eine wahrhaft nationale Tat“). Ganz ähnlich schon die Kommentare zum Werk Webers: „Nicht nur eine künstlerische, eine sittliche Tat zugleich hatte er vollbracht, indem er die deutschen Bühnen errettete von der Herrschaft fremdländischer Kunst und im Herzen der Nation den verloren gegangenen Glauben an die Größe und Herrlichkeit des deutschen Genius von neuem entzündete.“
Entgegen heute üblicher Formulierungsweise von Biographien herrschen in diesem Buch Superlative und Verehrung klar vor. Neben dem privaten Leben wird viel auf Uraufführungen hingewiesen. Auch Ehrungen der Komponisten durch Standbilder und ähnliches werden reichlich genannt. In vielerlei Hinsicht sind die Darstellungen durch die relative zeitliche Nähe zum Ableben der beschriebenen beeinflusst (bei Wagner ist der Tod gerade erst 30 Jahre her). Das macht die Perspektive für den heutigen, hundert Jahre später lebenden, Leser besonders spannend.
Für mich machen gerade diese älteren biographischen Werke vor allem immer wieder deutlich, dass die Bezeichnung „Sachbuch“ in diesem Zusammenhang sehr vorsichtig zu genießen ist, lässt doch die Sprache und der Schwerpunkt der Darstellungen einen großen Spielraum für persönliches und dem Zeitgeist geschuldetes. So mag sich einem Leser nach Lektüre mehrerer verschiedener Biographien ein ganz anderes Bild des Portraitierten ergeben als zunächst erwartet.
Geht man also davon aus, dass die Musikgeschichte und Musikwissenschaft eine sich entwickelnde Kunst ist, die heute vermutlich mit ganz anderen Mitteln arbeitet als vor hundert und mehr Jahren, so wird ein so altes Werk sicherlich wissenschaftlich betrachtet den einen oder anderen Mangel aufweisen, dennoch denke ich, darf man die relative zeitliche Nähe, die Tatsache, dass der Autor noch mit Menschen gesprochen hat, die den Beschriebenen kannten oder live gehört haben, nicht unterschätzen. Ist doch Musik eine durchaus vergängliche Sache, die sich mit Worten und Dokumenten nur teilweise erfassen lässt.