Das Buch, das ich heute hier vorstellen möchte, ist eine sehr ausführliche Biographie des französisch-amerikanischen Flötisten Georges Barrère, der in New York Mitbegründer des dortigen Flute Club war. Die Autorin, Nancy Toff, war selbst Jahre lang Präsidentin dieses Clubs und ist bis zum heutigen Tag dessen Archivarin.
Die mir vorliegende Ausgabe ist ein Hard-Cover-Band, deutlich größer als DIN A 5 aber nicht ganz DIN A 4 und umfasst inklusive aller Verzeichnisse im Anhang fast 440 Seiten, natürlich komplett auf Englisch, wie der Titel verrät. Hier alle bibliographischen Angaben in der Übersicht:
Nancy Toff
Monarch of the flute
The life of Georges Barrère
Oxford Press 2005, ISBN 13 978 0 19 517016 0
Das Buch gibt es bei Amazon auch in einer Ebook-Variante (natürlich kindle), oder als Taschenbuch. Wo ich das Hardcover her hatte, weiß ich gar nicht mehr. Die Papierqualität ist leider nicht sooooo super, dafür ist das aber auch für unter 20 Euro zu bekommen.
Die Widmung auf dem inneren Deckblatt gilt einer Schülerin Barrères und einer der ersten professionellen Flötistinnen Amerikas: Frances Blaisdell.
Nancy Toff beschreibt das Leben des für Amerika so bedeutenden Flötisten in insgesamt 19 Kapiteln. Dem folgt eine Würdigung durch die Autorin, zwei Verzeichnisse mit Werken, die ihm oder seinen Ensembles gewidmet wurden und solchen, die von ihnen uraufgeführt wurden. Es schließen sich die Endnoten, eine Bibliographie und ein Stichwortverzeichnis an.
In Deutschland dürfte Barrère den aller meisten kein Begriff sein, daher zunächst ein paar Fakten zu ihm. Geboren und aufgewachsen in Frankreich, studierte er dort am Koservatorium bei Altes, mit dem er nicht so gut zurecht kam, und anschließend bei Taffanel. Er besetzte in Paris einige Orchesterstellen, teilweise auch parallel (soll heißen zur gleichen Zeit). Die Perspektiven in Frankreich waren allerdings bei der aktuellen Konkurrenz (Hennebains, Gaubert, Lafleurance etc.) nicht so golden. 1905 folgte er daher einer Einladung nach New York, wo er den Rest seines Lebens (neben den vielen Tournee-bedingten Abwesenheiten) wirkte.
Er wird Soloflötist der New York Symphony (später Teil des New York Philharmonic). Er war ab der Gründung der Juillard School dort Lehrer, gründete zunächst in Paris und später auch in New York verschiedene Kammermusikensemble und arbeitete sowohl an einer Wiederentdeckung der Barockmusik als auch an der Verbreitung aktueller Werke. Unter den zahlreichen Uraufführungen, an denen er beteiligt war, ist unter anderem der Nachmittag des Faun von Debussy (spielte er noch in Paris als erster) und Varèses Density.
Diese kurze Zusammenfassung zeigt schon, wie rege er war. In der Würdigung am Ende der Biographie vergleicht Toff ihn nicht zu unrecht mit Rampal, der in den 60ern-80ern zu einer großen Popularität der Flöte und ihrer Musik beitrug. Zu Zeiten Barrères war diese Öffentlichkeitsarbeit noch durchaus mühsam, da erst in einer späten Phase seiner Karriere Radio und Plattenaufnahmen zur Verfügung standen. Barrère verbrachte einen großen Teil seines Lebens mit Konzertreisen durch ganz Amerika und mit dem Knüpfen von Kontakten zu wohlhabenden Sponsoren für seine verschiedenen Ensemble, Konzertreihen und Tourneen.
Spannend fand ich insbesondere den Einblick in die musikalischen und gesellschaftlichen Strukturen der Zeit und das Schlaglicht auf die Amerikanisch – Französischen Verhältnisse gerade im Bereich Musik. Bei Ankunft Barrères in New York herrschten dort musikalisch die Deutschen vor. Zu Beginn wurden die Musiker im Orchester für Proben gar nicht bezahlt (kann man sich heute auch nicht mehr so recht vorstellen). Die Gewerkschaften vertraten zunächst ausschließlich die Rechte der Musiker vor Ort, bei Ankunft herrschte daher viel Widerstand gegen die französischen Musiker, die Damrosch für sein Orchester rekrutierte.
Bald waren gerade bei den Holzbläsern die Franzosen absolut führend und beherrschten die Musikszene. Auf den Konzertprogrammen standen deutsche und französische Werke, amerikanische Musik spielte fast keine Rolle. Barrère arbeitete während seiner Tätigkeit in New York stetig an der Verbreitung der Werke einheimischer Komponisten, gleichzeitig begründete er in Amerika eine Vererbung der französischen Flötentechnik. Bald waren alle Lehrpositionen an den bedeutenden Konservatorien mit seinen Schülern besetzt und noch heute kann vermutlich beinahe jeder amerikanische Flötist seine Wurzeln bis zu ihm zurück verfolgen (Kincaid, Lora, Baker (zu Zeiten, als er schon nicht mehr selbst spielen konnte) waren alle seine Schüler).
Zu den beeindruckenden Namen, die einem in dieser Biographie begegnen, gehören Caplet, Casella, Fauré, Varese, Toscanini etc. Die Schaffensperiode Barrères fällt in die Hochzeit der Flöte und er war ein bedeutender Motor für die Holzbläser-Kammermusik. Alleine das macht diese Biographie schon sehr interessant.
Das Werk beruht auf einer sehr ausführlichen Recherche. Demzufolge bestehen die Darstellungen hauptsächlich aus dem, was heute über die Zeit von vor über 100 Jahren noch zu finden ist: Konzertprogramme und Konzertkritiken. Das ist wohl auch der Grund, warum sich das ganze ein wenig schwer liest. Es ist zwar total spannend, was Barrère so alles gespielt hat und wo, die Auflistung der Konzerte und Konzertreisen, Besetzungen und Werke ist allerdings auf die Dauer etwas trocken. Das Privatleben des Flötisten ist eher unterbelichtet, was aber auch in Ordnung ist, schließlich ist er aufgrund seiner musikalischen Tätigkeiten von Interesse.
Deutlich wird in jedem Fall, dass er wohl ein sehr lebensfroher und netter Mensch war. Sein Lebensstil brachte in ständig in Geldnot, er war unfassbar fleißig und musste neben Unterricht und Konzertieren permanent für Sponsoren sorgen. Er war also nicht nur Musiker, sondern auch Geschäftsmann und wohl auch ein Marketing-Profi (z. B. pflegte er seinen französischen Akzent, weil er beim Publikum gut ankam). Tragisch fand ich das Ende seiner Karriere: ein Schlaganfall machte die rechte Hand praktisch unbrauchbar. Dennoch hat er noch eine Zeit lang unterrichtet.
Am Ende der Lektüre bin ich mit dem Gefühl übrig geblieben, dass ich ihn gerne kennengelernt hätte. Da ich die vielen Repertoirehinweise noch nutzen möchte, habe ich mir zusätzlich auch das durchsuchbare Kindle-Buch besorgt, um es „auszuschlachten“.
Zu allerletzt hier noch der Ausdruck meiner Hochachtung an die Autorin für diese unfassbar umfängliche Recherche. Wirklich toll, vielen Dank!