Das Paul-Hindemith-Institut in Frankfurt gibt seit 1971 Jahrbücher heraus, die wissenschaftliche Artikel und Originalquellen zu Hindemith der Öffentlichkeit zugänglich machen. Durch Zufall bin ich bei meinen (meist virtuellen) Zügen durch die Antiquariate auf die Ausgabe 18 aus dem Jahr 1989 gestoßen. Erschienen im Schott-Verlag unter ISBN 3-7957-0110-4, enthält das ca. DIN A 5 große Büchlein mit ca. 170 Seiten drei Beiträge:
- Singspielhalle des Humors – zu den dramatischen Meisterwerken Paul Hindemiths (Friederike Becker)
- Notizen zu meinen „Feldzugs-Erinnerungen“ (Paul Hindemith)
- Die Unwirklichkeit der Bühne (Benno Elkan)
Zwischen seinem 18. und 25. Lebensjahr hat Paul Hindemith verschiedene ziemlich groteske Theaterstücke verfasst. Die Stücke haben praktisch alle irgendwie mit Musik zu tun, häufig wird darin Streichquartett gespielt. Die Figuren sind häufig an Kommilitonen und andere Bekannte angelehnt die Namen teils geradezu hinweisgebend (z. B. Cravalla für einen Komponisten). In dem über 4o Seiten langen Artikel über diese humoristischen Werke werden Zusammenhänge mit Hindemiths Biographie ebenso aufgedeckt wie andere Zusammenhänge mit zu der Zeit aktuellen Entwicklungen des Theaters und theoretischen Strömungen.
In einem weiteren Abschnitt dieser wissenschaftlichen Arbeit geht es um Filmmusiken und Hindemiths Verwendung des Films in seinen Theaterstücken. Interessant sind dabei auch die Hinweise auf die filmmusikalischen Tätigkeiten Hindemiths.
Einen weiteren Schwerpunkt dieses wissenschaftlichen Artikels bildet der Einsatz von Geräuschen in den Dramen Hindemiths. Gespickt sind alle Betrachtungen mit Ausschnitten aus den Originaltexten.
Der zweite Beitrag im Jahrbuch sind Tagebuchtexte aus Hindemiths Kriegserinnerungen. Der junge Komponist notierte sich ab dem Abzug ins Elsaß für jeden Tag seines beinahe einjährigen Kriegsdienstes die wesentlichen Ereignisse des Tage. Angereichert werden die Texte mit Fotografien und den handschriftlichen Notizen von der Rückseite der Bilder.
Hindemith war, wenig überraschend, nicht bei der kämpfenden Truppe sondern im Musikzug. Er hatte bei der Militärmusik die große Trommel zu schlagen. Daneben stellte er mit drei Kameraden aber vor allem ein Streichquartett, das häufig für die Vorgesetzten zur Unterhaltung spielte.
Neben den Angaben zu den jeweiligen Stationen listet Hindemith für Konzerte und Proben des Quartetts und der anderen Kammermusikbesetzungen auch täglich die gespielten Programme auf. Schön für Flötisten: darunter auch Mozarts Flötenquartette und die Serenade von Reger (Flöte, Violine und Bratsche). Der Flötist in seiner Truppe hieß Artur Nötzold und wird von ihm an der einen oder anderen Stelle ausdrücklich für sein Spiel gelobt.
Neben der Musik und den Marschbeschreibungen geht es viel um Essen und Trinken sowie das Ausbauen der wechselnden Unterkünfte. Die Aufzählung von Proben, Konzerten und anderen musikalischen Anlässen ist auch jedesmal begleitet von seiner Meinung zur Qualität der jeweiligen Session (immer distanziert mit: „es ist gut musiziert worden“ oder „heute ist nicht gut musiziert worden“).
Hindemith komponiert recht viel und gibt den Kameraden Harmonieunterricht. Militärisch sind die Musiker nur gelegentlich für Wachen oder Ausheben von Schützengräben zuständig. In seinen Beschreibungen gibt es recht viel Freizeit und auch Langeweile, sogar Zeit und Möglichkeit zum Geige üben.
Vom eigentlichen Kriegsgeschehen ist in seinen Notizen nur sehr gelegentlich die Rede. Da fallen ein guter Freund und der Vorgesetzte, genannt „Graf“. Zudem gibt es am Ende viel Fliegerbeschuss durch die Engländer. Insgesamt sind die Eintragungen relativ emotionsfrei. Seine persönliche Einstellung zum Krieg wird erst ganz am Ende offenbar, als nach der Nachricht von der Abdankung des Kaisers das Ende nicht unmittelbar das Ende seines Kriegsdienstes folgte.
Einige der vielen genannten Stationen seiner Kriegszeit und des Rückmarsches habe ich in der folgenden Karte dargestellt.
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Den dritten Beitrag des Jahrbuchs bildet eine weitere Originalquelle. Der Bildhauer Benno Elkan beschreibt die Schwierigkeit eine rein virtuelle Idee, Dichtung, auf eine Bühne und damit in die Realität zu bringen. Der Artikel war Grundlage für eine Diskussion zum Thema Oper, die Hindemith mit Elkan geführt hat.
Aus Elkans Sicht ist die dramatische Umsetzung von Dichtung anscheinend egal ob möglichst realistisch oder minimalistisch der Tod für die Vorstellungskraft, die eigentliche Quelle der Dichtung. Der Konflikt, den er hier beschreibt, ist eigentlich unauflöslich und müsste in Konsequenz zum Ende aller Bühnenaufführungen führen.
An der bisherigen Darstellung der Inhalte kann man schon merken, welchen Teil des Buches ich am interessantesten fand: die Kriegstagebücher.
Mein persönliches Verhältnis zu Hindemith ist ein durchaus getrübtes. Ich musste als Teenager mal die „Acht Stücke für Flöte“ lernen und üben. Und ich habe nichts daran verstanden, kann mich auch an nichts erinnern. Für mich war die Musik damals total akademisch, konstruiert, emotionsfrei und unverständlich. Hindemith war damit für mich mehr ein Konstrukteur als ein Künstler, seine Musik etwas, das man besser meidet (nach dem Motto: Hindemith? weg damit…).
Ausgehend von diesem frühmusikalischen Schaden war ich dann total überrascht, aus dem ersten Teil dieses Jahrbuches zu lernen, dass dieser Komponist auch eine Menge Humor hat. Damit war bereits nach der Lektüre dieses ersten Artikels neugierig auf mehr. Es bildete sich der Vorsatz, Hindemith sozusagen eine zweite Chance zu geben. Nach beinahe 20 Jahren besteht ja die Hoffnung, dass die inzwischen gesammelten musikalischen Erfahrungen seine Musik zugänglicher für mich gemacht haben könnten.
Beim Lesen der Kriegstagebücher zeigte sich dann das Bild eines ganz normalen jungen Mannes. Die Beschreibung der Proben und Musizierstunden erinnerten mich an meine eigenen Erfahrungen, Blattspiel-Sessions, Kammermusikkurse etc. Skurril wurden die Beschreibungen durch den kriegerischen Hintergrund. Im Laufe der Zeit kippte das Gewicht von hauptsächlich Musik dann aber doch etwas zu existenzielleren Themen wie Verpflegung, Unterkunft etc.
Mich würde ja interessieren, ob die Bundeswehr heute in Afghanistan auch Musikeinheiten dabei hat und ob dort neben der Militärmusik auch immer noch Kammermusik gemacht wird. Kann ich mir eigentlich kaum vorstellen.
Sehr überraschend fand ich auch, dass Hindemith und ein Kamerad beim Rückmarsch vorübergehend ihre Truppe verloren und dann wiedergefunden haben und dass es dafür keinen Stress gab. Überhaupt haben mich die zahlreichen Freigänge in alle Richtungen sehr überrascht.
Den dritten Beitrag in dem Bändchen fand ich hauptsächlich schwer zu lesen. Die Perspektive und die Ausführungen waren irgendwie nach ersten Startschwierigkeiten ganz verständlich, mir aber dennoch zu abstrakt. Ich für meinen Teil liebe zum Beispiel die Oper. Zwar sind nicht alle Inszenierung meines, aber so richtig den Spaß kann mir eine Inszenierung auch nicht nehmen.
Bei all der ehemaligen Abneigung hat dieser kleine Band es also geschafft, den festen Vorsatz auf einen „zweiten Blick“ in mir zu festigen.